Da ist guter Rat teuer: Der zweite Teil

Nur wenige Tage nach meinem Gespräch mit Herrn und Frau Z. sucht Fabians Vater mich allein in meiner Praxis in Hamburg auf. Für unser Gespräch hat er einen regelmäßigen Tennistermin mit einem Kollegen abgesagt. Es scheint ihm wirklich wichtig zu sein, mit mir weiter über seinen Sohn zu sprechen. Zugleich erkenne ich seine Anspannung, fast Abwehr, während er vor mir sitzt. Ich nehme das als gutes Zeichen. Angst und Vorbehalte sind mir so viel lieber als Gleichgültigkeit.

Herr Z. erzählt zunächst, wie sich die Situation zu Hause seit unserem letzten Gespräch entwickelt hat: Fabian hat sich weiterhin sehr zurückgezogen. Aber wie vereinbart, gab es keine reglementierenden Gespräche mit ihm. Am Wochenende haben alle zusammen gegessen und es trat ein wenig Entspannung und Normalität ein. Mit seinen Freunden hat Fabian sich nicht verabredet, stattdessen verbrachte er viel Zeit in seinem Zimmer. Die Zimmertür ließ er immer offen, so wie es in der Familie und im Hause üblich ist. Von der Schule ist Fabian noch beurlaubt. Heute Morgen war eine Sozialpädagogin vom Jugendamt bei ihnen. Herr Z. hat aber noch nicht gehört, wie das Gespräch verlaufen ist.

Im Anschluss an seine Situationsschilderung stelle ich Herrn Z. die Frage, was er sich für seine beiden Söhne wünsche und was er ihnen mit auf den Weg geben möchte. „Ich möchte sie zu Menschen erziehen, die sich an Regeln halten können“ sagt Herr Z. in einem etwas trotzigen Ton, „und das kann Fabian zurzeit offenbar nicht.“ „Was ist Ihnen noch wichtig?“ will ich wissen. Jetzt überlegt Herr Z. einen Augenblick: „Ich möchte, dass die Jungs gute Jobs machen, dass sie studieren, wenn sie das wollen, dass sie viele Möglichkeiten offen haben. Dafür brauchen sie aber jetzt eine gute Schulbildung, ein Abitur, damit sie sich ihren Beruf aussuchen können.“. Ich nicke: „Verstehe. Was noch?“. Wieder macht Herr Z. eine längere Pause, sieht zum Fenster heraus. Ohne sich mir wieder zuzuwenden sagt er dann: „Es soll den beiden leichter gemacht werden als mir und…“. Nach einer ganzen Weile des Schweigens frage ich: „Was und?“ – Herr Z. sieht mich an: „Sie sollen mich nicht so hassen, wie ich meinen Vater gehasst habe.“. Darüber möchte ich mehr erfahren. Ich sage ihm, warum es mir wichtig erscheint, seine Eltern und die Erfahrungen, die er als Kind und Jugendlicher gemacht hat, näher zu betrachten. Diese Erfahrungen, so sage ich ihm, werden prägend für ihn gewesen sein. Sie werden einen Grundstein für einen Erziehungsstil gelegt haben, der – wie mir scheint – nicht in allen Punkten geeignet ist, seine Erziehungsgrundsätze umzusetzen. Während ich das sage, wird Herr Z. sichtlich nervös. „Das genau habe ich nicht gewollt“, entgegnet er. „Genau darüber habe ich gestern mit meiner Frau gesprochen: Dass ich befürchte, über meine eigene Kindheit sprechen zu müssen. Meine Frau hat mich ermutigt, es dennoch zu tun. Sie meinte, es kann für Fabian hilfreich sein – und vielleicht auch für mich.“. Nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: „Ich bin noch nicht sicher, wie das funktionieren kann, Herr Wulff, aber ich werde ihnen von meinem Vater – und meiner Mutter – erzählen.“.

Die Geschichte, die Herr Z. dann erzählt, ist aufschlussreich und bewegend. Ich gebe hier wieder, was mir für die Entwicklungsarbeit mit Herrn Z. und für das Verständnis meiner Vorgehensweise wichtig erscheint:

Jens Z. ist im Jahr 1960 als Kind einer wahrscheinlich minderjährigen Mutter geboren. So ganz genau weiß er das nicht, sagt er. Aufgewachsen ist er bei seiner Großmutter, die er als immer liebevoll beschreibt: „Sie hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen und sofort erfüllt.“. Seinen Großvater hat er nicht kennengelernt; der war aus der Kriegsgefangenschaft nicht zurückgekehrt. Von seiner Mutter hat er wenig gewusst. Bis zu seinem 10.Lebensjahr hat sie Jens und die Großmutter nur sehr selten besucht – zu seinem Geburtstag und noch ein- oder zweimal im Jahr. „An meinem 10. Geburtstag dann ist sie mit einem Mann erschienen, den ich bis dahin noch nie gesehen hatte. ‚Das ist ab jetzt dein Stiefvater‘, hat sie mir gesagt. Und: Ich müsse ihm gehorchen, wenn er etwas von mir will.“ – allerdings lief in den nächsten zwei Jahren alles erst einmal weiter wie bisher. Er lebte bei der Großmutter – nur dass seine Mutter und ihr Partner jetzt alle paar Wochen kamen und Jens Z. zu einem Wochenendausflug abholten. „Das war eigentlich immer ganz schön“, bemerkt Herr Z., „trotzdem hatte ich meistens Heimweh“. Kurz vor seinem 12. Geburtstag erklärten seine Mutter und Carl, so hieß der Mann, dass er bald bei ihnen wohnen werde. Er solle aber erst mal seinen Geburtstag bei der Oma feiern und dann würden sie ihn mit zu sich nach Hause nehmen. Da würde er es dann mit seiner neuen Familie gut haben.

„Mein Leben dort war aber alles andere als gut“, erklärt Herr Z. mit einem Ausdruck von Ohnmacht in den Augen. „Es fing schon damit an, dass ich zu dem Mann meiner Mutter Papa sagen musste. Ja, wirklich musste! Aber ich konnte das nur mit großem Widerwillen. Ich habe diesen Carl von Anfang an nicht gemocht. In meinem Inneren und meinen Freunden gegenüber war er immer nur der ‚Freund meiner Mutter‘. Als Ersatz für einen Vater konnte ich ihn nicht annehmen.“ – Herr Z. hält einen Moment inne, blickt wieder zum Fenster. „Naja, vielleicht wollte ich es auch nicht. Ich habe mir in all den Jahren immer sehnlichst einen Vater gewünscht. Aber der sah in meiner Fantasie ganz anders aus.“ – wie anders, zeigen die anschließenden Worte, mit denen Herr Z. seinen Stiefvater beschreibt. In mir entsteht das Bild eines schlicht gewalttätigen Mannes, der schlug, wann immer etwas nicht nach seinen Vorstellungen lief. Und er muss oft andere Vorstellungen gehabt haben. Die Schläge trafen den zwölfjährigen Jungen und sie trafen dessen Mutter. Es müssen schlimme Prügel gewesen sein: „Mehr als einmal ließ meine Mutter mich nicht in die Schule gehen, weil die Schläge eine aufgeplatzte Lippe oder ein blaues Auge hinterlassen hatten.“. Die Mutter wollte ihren Mann (sie hatte Carl inzwischen geheiratet) wohl vor Fragen aus der Schule schützen. Vor seiner Gewalt jedoch konnte sie offensichtlich weder ihren Sohn noch sich selbst schützen. Zum Glück für Jens Z. schlugen die Geheimhaltungsversuche der Mutter fehl. Die Klassenlehrerin hatte die Not des mittlerweile 14jährigen Jungen bemerkt. Und so konnte der Schutz vor der stiefväterlichen Gewalt bald aus der Schule kommen.

Als Herr Z. von seiner Lehrerin zu erzählen beginnt, lacht er plötzlich verschämt. Kurz darauf sieht er mich erschrocken an. Mein Blick ermuntert ihn, fortzufahren. Seine Lehrerin hatte ihn zur Rede gestellt, nachdem er in der Schule randaliert hatte. Sie wollte wissen, was bei ihm zu Hause los sei. Noch einmal hält Herr Z. überrascht inne: So verrückt es klingen mag, aber er erinnere sich wirklich erst jetzt an seine eigene Tat, in der sich so viele Parallelen zu dem Zerrstörungsanfall seines eigenen Sohnes zeige: „Ich habe damals auf einer Baustelle auf dem Schulhof mehrere Eimer Lackfarbe gestohlen und mit der Farbe Schultafeln beschmiert und Klassenräume verunstaltet. Wie kann das sein?“, fragt er mich, „dass ich mich seit der Tat von Fabian nicht daran erinnert habe?“. Ich erfahre, dass weder seine Ehefrau noch seine Freunde etwas von Carl und jener Lebensphase wissen. Ja, Herr Z. selbst hat diesen Teil seines Lebens fast bis zum eigenen Vergessen verdrängt. Keinem, auch nicht seiner Frau, hat er je erzählt, wie die Lehrerin sich seitdem um ihn bemüht hatte. Zwei Jahre nach dem Vorfall sorgte sie dafür, dass der Jugendliche aus der Wohnung seiner Mutter und des Stiefvaters ausziehen und in eine eigene Wohnung ziehen konnte. Leicht sei es für ihn allerdings auch dann nicht gewesen, als 16jähriger in einer eigenen Wohnung allein zu leben. Die Oberstufe des Gymnasiums verlangte ihm einiges ab; das letztlich hervorragende Abitur habe er sich hart erarbeiten müssen. Ohne die weitere Unterstützung seiner Lehrerin hätte er das vielleicht nicht geschafft, denkt Herr Z. laut. Inzwischen hatte er aber auch wieder auf die Hilfe der Großmutter zurückgreifen können, die er in der Zeit bei seiner Mutter nicht mehr hatte besuchen dürfen.

Das Leben, das Herr Z. wieder für vorzeigbar hielt und von dem er seiner Frau erzählt hatte, beginnt erst mit seiner Aufnahme des Medizinstudiums in Tübingen und dem Umzug in ein Studentenwohnheim. Sein Bericht endet mit den Worten: „Und von da an beginnt die Geschichte die jeder kennt. Studium, mit Auszeichnung beendet, Doktorarbeit, Praxisjahr und anschließende Facharztausbildung im Schnelldurchlauf.“.

Warum aber hat Herr Z. niemandem von seinem anderen Leben erzählt? In einer Offenheit, die im Kontrast zum Beginn unseres Gesprächs steht, gibt er zur Antwort: „Ich habe mich geschämt.“. Es macht den Eindruck, als erkenne er das gerade jetzt, in diesem Moment. Während seines Erzählens war eine Veränderung in Herrn Z. vorgegangen: Irgendwann hatte er das über dem Knie liegende Bein herunter gestellt, hatte zu gestikulieren begonnen und sein Oberkörper war aus der angelehnten Sitzhaltung nach vorn gekommen, während er immer eindringlicher sprach. Zum Schluss wirkte er lebendiger, von seiner eigenen Geschichte überrascht und bewegt.

Dann sitzen wir eine Weile schweigend einander gegenüber, beide augenscheinlich zu beeindruckt, um sofort weiter zu sprechen. Ich kann nicht anders, als ihm für seine Offenheit zu danken und seinen Mut zu dieser Offenbarung wertzuschätzen. Dann will ich wissen, was ihm in seiner Not geholfen hat: „Meine Lehrerin.“ – „Ja, das ist offensichtlich, aber was hat sie getan, was sie als hilfreich erlebt haben?“. Herr Z. erzählt davon, wie die Klassenlehrerin an ihn geglaubt, wie sie ihm Selbstverantwortung zugetraut und sich für ihn eingesetzt hatte, als er von der Schule fliegen sollte. Ehrfürchtig spricht er über diese Frau, die dem Stiefvater gegenübergetreten war und gedroht hatte, ihn anzuzeigen, wenn er den Jungen weiter schlagen sollte: „Genau das hat sie zwei Jahre später getan. Dadurch konnte ich eine eigene Wohnung bekommen. Zunächst wollte mich das Jugendamt in eine betreute Wohngemeinschaft stecken, aber dafür hätte ich die Schule wechseln müssen. Das hat meine Lehrerin verhindert, indem sie meine Fähigkeit zur Selbstständigkeit bescheinigte. Ihr und ihrem Vertrauen in mich habe ich alles zu verdanken, was ich heute bin.“

Jetzt frage ich nach Fabian, und was er ihm zutraue. Wieder ein langes Nachdenken, Schweigen. Dann: „Ich verstehe, was sie mir sagen wollen, Herr Wulff!“. Herr Z. erkennt viele Dinge gleichzeitig. Zum Glück haben wir noch genügend Zeit, um über all das zu sprechen. Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehören die Parallelen zu Carl, die Herr Z. jetzt sieht. Zwar habe er Fabian nicht als Nichtskönner abgewertet, wie Carl es bei ihm getan hatte. Aber auch er habe seinem Sohn kaum etwas zugetraut, habe ihn kaum etwas selbst ausprobieren lassen. „Ich habe Fabian meine Vorstellungen aufgezwungen, genauso wie Carl es mit mir gemacht hatte. Ich glaubte zu wissen, was gut für meinen Sohn ist. Auch Carl wollte immer bestimmen, was ich als Jugendlicher zu tun habe. Sogar mein Denken wollte er bestimmen. Und immer war die Begründung, dass er es doch nur gut meine. Als Erwachsener wisse er schließlich besser, was für mich gut ist.“

So geht ein weiteres wichtiges Gespräch im Fall Fabian seinem Ende entgegen. Ich kann wahrnehmen, wie Herrn Z. klarer wird, was ich zum Schluss unseres letzten Gesprächs mit meinen Worten von einem Umbau gemeint habe: dass seine Söhne jetzt, in der neuen Phase ihrer Entwicklung, etwas anderes von ihm brauchen als vorher. Es entsteht in ihm eine Ahnung, was hinter der destruktiven Tat seines Sohnes stecken könnte. Zugleich wird ihm deutlich, wie wenig er sich darin auskennt, Vertrauen zu haben – Vertrauen, dass Fabian seinen eigenen Weg finden wird und dass er ihn dann auch gehen lassen kann. Herrn Z. erwischt diese Einsicht wie einen Schlag in den Nacken: „Aber Herr Wulff – ich kann das nicht!“. Ich erinnere ihn daran, dass ich ihm angeboten habe, ihn bei genau diesem Umbauprozess zu begleiten.

Mit Frau Z. führe ich einige Tage später ein ähnliches Gespräch. Ähnlich in dem Sinne, dass auch der Mutter von Fabian deutlich wird, welche anderen Haltungen und Verhaltensweisen ihre Söhne nun von ihr brauchen. Auch sie erkennt Zusammenhänge zwischen ihrem eigenen Erziehungsverhalten und dem ihrer Eltern: wie wenig hilfreich jetzt für sie die Erfahrung ihrer Kindheit ist, dass jeder macht, was er will, dass eigentlich alles egal, nichts wirklich wichtig ist. Sie sieht, wie die antiautoritäre Erziehung, die sie genossen hat, es ihr heute schwer macht, klare Grenzen zu setzen, also eine tragfähige Entwicklungslinie zu ziehen.

In den weiteren Wochen ist die Arbeit mit Herrn und Frau Z. geprägt von gegenseitiger Offenheit, dem Vertrauen in ihren eigenen Prozess und zunehmend auch in die Entwicklung von Fabian und Rajan. Über die Details muss an dieser Stelle nicht gesprochen werden. Nur so viel, um den glücklichen Ausgang der Geschichte anzudeuten:
Fabian hat die Schule gewechselt. Als er sich in der neuen Schule vorstellte, hat er von seiner Tat erzählt. Den Mut dazu schien er geschöpft zu haben, nachdem sein Vater ihm seine Geschichte erzählt hatte. In der neuen Schule habe man ihm eine zweite Chance geben wollen. Im Hause Z. sind einige Regeln abgeschafft worden. Unter anderem sind nun sowohl abgeschlossene Türen als auch Geheimnisse ausdrücklich erlaubt. Geheimnisse scheint es allerdings viel weniger zu geben. Herr Z. hat seiner Frau von seiner Jugend erzählt und daraus hat sich eine ganz neue Gesprächsbereitschaft zwischen den Eheleuten ergeben. Beide kommen heute weiterhin zu mir. Meistens zu zweit. Sie nutzen dann die Zeit für sich und für ihre Beziehung. Mir wird am Beispiel dieser Familie wieder einmal deutlich, wie heilsam es für die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern ist, wenn sich die Eltern verantwortungsvoll und mit gegenseitigem Respekt um eine eigene gesunde Beziehung bemühen.

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